Die Nacht am Fährhafen ist vorbei. Am frühen Morgen kommt ein Pärchen auf sie zugelaufen. Schon wieder. Am Abend zu vor kamen bereits zwei Männer auf ihren Motorädern angefahren als Anna gerade nackig hinterm Bus duschte. Diesmal war Anna angezogen. Es werden ein paar Worte auf Englisch gewechselt bis sie feststellen, dass sie auch deutsch miteinander sprechen können. Das junge Paar ist seit einem Monat unterwegs. Sie wollen per Anhalter, Bus und Bahn bis nach Ostasien reisen. Bloß nicht fliegen, ist das Motto.

Wie in einem vorigen Telefonat abgemacht, ruft Anna die Information der Fährgesellschaft an, um mitzuteilen, dass sie am Hafen sind. „Can we pay by credit card?“, fragt sie noch schnell bevor er auflegt. “No! Only cash!”, antwortet er freundlich. Anna und Philipp haben natürlich keine 1240 Leva bar einstecken. Schon einige Tage zuvor hatte Anna vorgeschlagen anzurufen um zu fragen ob sie denn mit Karte zahlen können. Philipp hielt das für Quatsch und war sich sicher, dass das ginge. „Es ist ja schließlich viel Geld und ein großes Unternehmen“, hatte er sich selbst bestätigt. Nun gut. Falsch gedacht. Sie fahren rasch zum nächsten Bankautomaten, der 20 Minuten entfernt liegt. In der Ortschaft ist eine der Hauptstraßen gesperrt und sie müssen einen großen und komisch verzweigten Umweg fahren. „Anna ich kann kein Geld abheben. Es geht nicht!“, kommt Philipp mit leeren Händen zurück. Anna erklärt ihm, dass er nur den Höchstbetrag, den der Automat selber vorschlägt abheben kann. In diesem Fall hieß das also dreimal 400 Leva. Umständlich. Als sie das Geld haben, fahren sie zügig zurück. Sie glauben zwar nicht, dass die Fähre bereits abgelegt hat aber sie beeilen sich trotzdem. Etwas mulmig ist ihnen dann doch. Bevor sie ankommen, sehen sie die Fähre, die noch im Hafen steht.

Sie suchen das Bürogebäude wo sie die Tickets kaufen können. Der Mann am Eingang des Hafengeländes kann kein Englisch, zeigt aber auf ein großes halb zerfallenes Gebäude. „Nein, da drin kann es nicht sein. Das ist doch verlassen.“, sagt Philipp wieder einmal sehr sicher. Sie treffen auf andere Passagiere und fragen nach. Die zeigen ebenfalls auf das verlassene Gebäude. „Second floor“, sagt einer von ihnen und fragt direkt danach „Do you know where the costum is?“, Anna schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern. Verwirrung besteht auf beiden Seiten. Unglaubwürdig betreten sie das eingestaubte und mit Pflanzen überwucherte Gebäude und finden tatsächlich auf dem zweiten Stock, das deutsche Pärchen auf einer schwarzen Couch sitzend wieder. Nur blöd, dass sie Reisepässe und Fahrzeugdokumente benötigen. Philipp läuft nochmal los, zurück zum Auto, und Anna und Anton setzen sich auf die Couch. Anton fackelt nicht lange und stürzt sich fast schon hemmungslos auf das deutsche Pärchen. Er versucht über ihre Beine zu robben, zieht an ihren Shirts, patscht ihnen ins Gesicht und feixt, dass Mensch ihn im ganzen Hochhaus hört. Sie sind an der Reihe. Sie haben zwar nicht lange gewartet aber Anton lässt sich nicht mehr auf dem Schoß halten. Anna lässt ihn auf den Boden hinab. Sie traut ihren Augen nicht. Anton krabbelt auf allen Vieren über den Boden zum Schrank, wieder zum Stuhl, zu ihr und zu den anderen wartenden Passagieren, die draußen auf dem Flur stehen. So leer wie das Gebäude ist, so dreckig ist es auch. Antons Hände und Füße sind schwarz.

Das Geld wurde überreicht, die Papiere gescannt und nun müssen sie mit ihrem Bus zum Zoll vorfahren. Das Gebäude, in dem die Zollbeamten sitzen, ist einige Meter entfernt und noch stärker vom Verfall betroffen. Die Tapete löst sich in großen Fetzen von der Wand, der Boden wölbt sich und auf den kaputten Büromöbeln, die in manchen Räumen noch stehen, liegt eine zentimeterdicke Staubschicht. „Ohhh our baby is peeing!“, schallt es durch den leeren Flur. Anna hatte den unten rum nackten Anton auf dem Arm. Es plätschert auf den dreckigen Boden. Die Beamten verziehen keine Miene. „No problem“. Philipp holt den Bus und Anna wartet mit Anton, der fröhlich weiter krabbelt – mit dem nackten Popo hoch in der Luft, draußen. Die Beamten inspizieren den Bus halbherzig. Aber ihnen fällt auf, dass die Vignette abgelaufen ist. „Was? Sind wir schon vier Wochen in Bulgarien?“, frag Anna mit großer Verwunderung. Dank Anton – die Beamten hatte gesagt „it is for the baby“ – müssen sie keine 150 Euro Strafe zahlen, sondern kaufen eine weitere Vignette für 15 Euro. Puh, nochmal Glück gehabt.

Nun läuft Anna zurück zum ersten Gebäude und zeigt die Unterlagen des Zolls vor. Mit der Information, dass sie 12 Uhr zur Grenzkontrolle fahren können, kehrt sie zu Philipp und Anton zurück, die noch im Schatten vor dem Zollgebäude spielen. Anton schläft bei Philipp in der Trage ein. Während die beiden laufen, fährt Anna den Bus vor zur Grenzkontrolle. Alle anderen Passagiere – drei Russen, zwei Deutsche, eine armenische Familie, zwei Franzosen und ein Lette – warten bereits ungeduldig. Es zieht sich. Die Stunden vergehen. „Die Deutschen haben gesagt, dass wir 3 Tage mit der Fähre fahren“, erzählt Philipp. „Ach quatscht. Ich habe gelesen, dass wir zwei Tage fahren.“, hält Anna dagegen. Beide gehen davon aus, dass sie eine Nacht auf der Fähre schlafen werden. Die Grenzkontrolleure kommen angeschlendert, gehen auf jeden einzelnen Passagier zu, nehmen die Dokumente entgegen, verschwinden in ihr Bürohäuschen und kommen mit Anweisungen wieder heraus. Ein eigenartiges System. Die kleine Familie wird mit als erste auf die Fähre gelassen obwohl sie die letzten in der Schlange waren. Eine mit Schienen versehene Rampe führt hoch in das Parkdeck. Früher wurde diese 45 Jahre alte Fähre zum Transport von Zugwagons benutzt. Heute ist die Bahngesellschaft pleite oder um es mit den Worten der Beamten zu sagen „The train company is not in good condition“. Sie hat diese leerstehenden Gebäude, sowie diverse vor sich hin rostende Autos und eine alte Fähre hinterlassen.

Sie fahren auf die Fähre. Die Männer, die sie einweisen, sehen aus wie Piraten. Goldzähne, Bärte, lange Fingernägel, Schmutz im Gesicht. Sie freuen sich herzlichst über den kleinen Anton. Ein Mann, der deutsch kann, nimmt sich ihrer an und führt sie durch das Labyrinth der Fähre in ihre Kajüte. „Ob sie jemals wieder zu ihrem Bus finden?“, fragt sich Anna. Sie betreten ihre Kajüte: ein Bad, zwei Einzelbetten, ein Tisch, drei Stühle. Alle sind müde und schlafen sofort ein: Anton auf dem Bauch von Anna und Philipp im zweiten Einzelbett. Als sie nach anderthalb Stunden aufwachen, stehen sie immer noch. Uff.

Gegen vier Uhr nachmittags legt die Fähre ab. Es gibt drei Mahlzeiten und Wasser für alle Passagiere. Philipp fragt nach wann sie ankommen. Wieder einmal haben sie sich geirrt. Sie werden drei Nächte auf der Fähre verbringen und am Mittwoch morgens ankommen.