Nach vier Tagen brechen wir auf. Frisch geduscht – die Stranddusche war der Hammer – und mit aufgefüllten Essens- und Wasservorräten fahren wir noch mal in die Berge, in den Gran Sasso Nationalpark. Ich möchte gerne den höchsten Berg Italiens, den Corno Grande, sehen und fotografieren, am liebsten zur goldenen Stunde. Sobald wir die Küste verlassen, wird es hügelig. Städte erstrecken sich über die Kuppen der Hügel, kleine Felder sind an den Hängen angelegt und Straßen werden plötzlich sehr schmal und steil, sobald wir die Landstraße verlassen. Eine halbe Stunde vor Ankunft müssen wir eine Pause machen, da Merle sich nicht beruhigen lässt, auch nicht an der Brust. Wir halten an, essen etwas, laufen ein bisschen rum und fahren, sobald Merle eingeschlafen ist, weiter. Es ist nicht mehr weit.

Kurvig und grün geht es in den Nationalpark hinein. An den Hängen wachsen Bäume, im Tal fließt ein Fluss, die Felsen schießen steil in die Höhe. Das klingt wie eine Beschreibung für viele andere Nationalparks dieser Welt. Ich finde den Anblick wunderschön und genieße dieses viele Grün um mich herum, während Philipp sich mit den engen Kurven herumschlägt.
In Pietracamela halten wir an. Hier werden wir unterhalb der Stadt auf einem Parkplatz umgeben von Wald übernachten. Ich erinnere mich daran, wie wir damals gemeinsam mit Moritz durch diesen Nationalpark wanderten, hier in Pietracamela einkehrten und Wein tranken. Ich lasse meine Gedanken schweifen. Es ist ein besonderer Ort für uns, denn hier wurde vor mehr als drei Jahren Anton gezeugt. Wir laufen durch den kleinen Bergort. Die erste Reihe der Häuser ist schick, die zweite Reihe renovierungsbedürftig und in der dritten Reihe findet Mensch verlassen Häuser, die langsam der Witterung und der Kraft der Pflanzen zum Opfer fallen. Anton springt von einer Stufe auf die nächste – es gibt so einige davon – und Philipp und ich reden über dies und das, bis wir kurz vor Sonnenuntergang zum Bus zurückkehren.


Am nächsten Tag warten wir nicht bis zum Mittagsschlaf, sondern fahren mit dem ersten Schläfchen von Merle los. Anton kann inzwischen auch im wachen Zustand Auto fahren. Er sitzt vorne und erzählt, was er sieht, stellt Fragen und isst Mandeln. Wir sind auf dem Weg zum Campo Imperale, wo ich mir einen schönen Blick auf den Corno Grande erhoffe. Noch scheint die Sonne, noch ist der Himmel blau, noch gibt es nur ein paar weiße Wolken am Himmel. Mit einer Pause schaffen wir es noch vor dem Mittagessen zum Campo Imperale. Der Corno Grande zeigt sich in seiner vollen Größe. Ich bin plötzlich hellwach und schaue aufgeregt und abwechselnd aus unseren Fenstern. „Willst du ein Foto machen?“, fragt mich Philipp. Ich verneine, denn ich will zunächst zum höchsten Punkt, um mich umzuschauen.
Oben angekommen, hüpfe ich aus dem Bus. Mir schlägt heftiger Wind und kalte Luft entgegen. Brr. Ich hole meine Winterjacke von hinten, einen dicken Schal und eine Decke für Merle raus. Wolken ziehen schnell an uns vorbei, sie sammeln sich im Tal und stauen sich vor dem Campo Imperale. Es gibt ein Café. Da wir unsere Masken im Bus vergessen haben, fällt die Kaffeepause für uns aus. Kurz rege ich mich mal wieder über diese ganze Maskenparade auf. Ich vergessen sie oft und stehe dann da wie bedröppelt und kann nicht rein.
Auf dem Rückweg zum Bus kommen wir an einem langen Stand vorbei. Wie unwirklich, dass hier oben in dieser einsamen Gegend etwas verkauft wird. Wer hier wohl etwas kauft. Ich sehe einen Knoblauchzopf mit sehr vielen Knoblauchknollen. „Genial“, denke ich. Sofort denke ich an Arnes Knoblauchknollen, die wir innerhalb von drei Wochen verbraucht hatten. Ich spüre einen starken Drang, diesen Knoblauchzopf kaufen zu wollen. Ich bin aber unsicher. Ich hatte schließlich noch vor einer Minute den Verkauf hier oben in den Bergen infrage gestellt. Ich äußere meinen Wunsch bei Philipp, der mit dem gleichen absurden Gedanken reagiert, wie ich ihn hatte: „Hier kaufen wir doch nichts. Das ist doch Quatsch.“ Es bedarf etwas Überredungskunst, bis Philipp einigermaßen einverstanden ist. Nun brauchen wir bis in den Winter und wahrscheinlich länger keinen Knoblauch mehr zu kaufen.
Im Bus essen wir Mittag, kuscheln uns alle in die Decken ein, hören dem Grollen des Windes zu und schlafen schließlich ein. Ich wache auf und sehe nichts, als ich aus dem Fenster schaue. „Hätte ich mal lieber gleich ein Foto vom Corno Grande gemacht?“, sage ich verärgert zu mir selbst. Mein Ärger klingt nicht ab, als ich mit etwas Hoffnung aus dem Seitenfenster schaue. Dichter Nebel. Graue Luftmassen, die keinen Meter Sicht zulassen. Ich lasse meinen Kopf hängen, bin traurig und die Aufmunterungsversuche zeigen keine Wirkung. Ich reiße mich zusammen und kümmere mich um Anton, als er wach wird.
Wir begeben uns zurück ins Tal, denn hier oben ist die Wetterlage miserabel. Ich hoffe sehr, dass die Wolken so schnell wie sie gekommen sind, weiterziehen. Der Blick ins Tal ist vielversprechend. Ich hatte auf der Fahrt nach oben einen kleinen See gesehen. Dort würde ich gerne übernachten. Denn mit der Spiegelung im Wasser wird bestimmt auch ein in den Wolken hängender Berggipfel ein Fotomotiv sein. Philipp hält an, ich schnalle mich ab, springe mit Kameratasche auf dem Rücken und mit Anton an der Hand raus. Er kommt mit. Denn am See trinkt gerade eine Kuh. Schnell. Der Berg ist gerade frei und das Tal liegt in der Sonne. Tapsig läuft Anton mit zu einer geeigneten Stelle zum Fotografieren. Ich fühle mich wie als würde ich gerade die Möglichkeit haben, das Foto des Jahres zu schießen. Ich lache innerlich, aber irgendwie macht es mir auch Spaß, so zu tun, als würde ich einen Löwen und nicht eine langweilige Kuh fotografieren.



Anton fliegt durch die Luft. Ich habe Merle auf den Arm, atme tief ein, spüre die frische Bergluft im Gesicht, ich fühle Wärme, obwohl die Temperaturen tief sind.

Am nächsten Morgen schaue ich, nach dem Merle mich wachgequietscht hat, aus dem Fenster. Ich hatte mir vorgenommen, den Sonnenaufgang zu fotografieren. Ich sehe kein Berg, keine Sonne, kein Ende der Straße. Die Wolken hängen tief. „Schade“ denke ich. Wir frühstücken und fahren gestärkt und gesättigt weiter.

Unterwegs sehen wir Kühe, Schafe und große Hütehunde. Anton ist jedes Mal begeistert. Die Wetteraussichten sind schlecht, daher ändern wir spontan unsere Route und fahren doch schon nach Monte Bello zu Roberto und seiner Familie. Wir halten einem Aussichtspunkt. Es stürmt heftig, so sehr, dass unser Bus wackelt, ununterbrochen. Wir parken um, da es uns beiden zu unheimlich ist und wir das Gefühl haben umzufallen. Wir wagen uns etwas später zu Fuß zum Aussichtspunkt, aber wir brechen auch dieses Vorhaben ab. Der Wind peitsch, alles fliegt, wir kneifen alle die Augen zusammen, Anton versteckt sich und ich nehme Merle in den Windschatten, aber ihr geht es sichtlich nicht gut. Bevor wir weiterfahren, essen und schlafen wir.