Ich habe den nächstbesten Stellplatz am Meer rausgesucht und so landen wir in Cesenatico, einem recht unspektakulären Ort an der Ostküste Italiens. Wir hatten uns darauf geeinigt, wenigstens noch ans Meer zu fahren, bevor wir komplett abbrechen, denn das war unser Ziel: Meer sehen, im Meer baden, Salzwasser schmecken, Sandkörner zwischen den Zehen spüren. Falls Philipp es in den nächsten Tagen schafft, seine Reiselust wiederzufinden, fahren wir weiter. Ich hoffe sehr darauf, spreche es aber nicht an, sondern lasse ihm Zeit. Ich möchte ungern Druck ausüben, ungern die Stimmung drücken und ungern erneut deswegen streiten.

Wir gehen schwimmen, wir trinken italienischen Kaffee, wir spielen auf dem Spielplatz mit Andrea, einem italienischen Jungen, wir trinken Sprudelwasser mit Zitrone und lassen uns die Sonne auf dem Buckel scheinen. Philipp und ich können uns entspannen. Ich genieße Merle, die mit jeder Woche robuster wird, und Anton, der mir jeden Tag einen imaginären Kaffee mit Hafermilch in seinem Café „Zauberei“ zubereitet. Mir geht es gut, und auch Philipp scheint es besser zugefallen. Der Strand und das Meer packen unsere Sinne, die Sonne brennt, der Wind kühlt, und die kinderfreundlichen Restaurants und Cafés erleichtern unser Elterndasein. Ab und zu kippt meine Stimmung. Kritisch ist es, wenn Philipp sich mit zu vielen Mücken konfrontiert sieht und wir deswegen umdisponieren müssen, wenn mir zu heiß, mich viele Fliegen krabbeln, wenn Anton eine emotionale Krise nach der anderen durchlebt, oder Merle einfach nicht einschlafen will und bitterlich weint, weil wir ihren Einschlafmoment verpasst haben.

Trotz der ständigen Forderung durch Merle und Anton baut Philipp seinen mitgenommenen Stress ab und kommt in der neuen Lebenssituation an. Seine Anspannungen lösen sich. Wir finden uns besser im und mit Bus zurecht. Das Reisemotto „Go with the Flow“ etabliert sich in unseren Alltag und hilft uns, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, nichts zu erzwingen, einfach eine Pause zu machen, wenn es gebraucht wird, langsamer zu gehen und durchzuatmen. „Wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht“, würde Anton sagen. Je nach Kapazität funktioniert das mal mehr und mal weniger gut.

Mein Papa ruft an und sagt zu mir „Kommt bloß nicht zurück. Hier ist es kalt und nass“. Als ich das Philipp weitergebe, eröffnet er mir, dass er Lust hat weiterzureisen. Ich freue mich sehr, meine Sorgen verlassen meinen Kopf, meine körperliche Anspannung löst sich und mein Herz springt vor Aufregung. Ich schlage vor, mit der Fähre nach Sizilien zu fahren, um Philipp das Autofahren zu ersparen. Nach einer kurzen Unterhaltung ergibt sich jedoch, dass er lieber von Strand zu Strand und von Nationalpark zu Nationalpark fahren möchte.

Philipp hatte bereits einige Tage zuvor einen ehemaligen Arbeitskollegen, der mit seiner Frau in Monte Bello lebt, angerufen und uns angekündigt. Nun fahren wir tatsächlich hin und finden heraus, dass Roberto die Lösung für all unsere gesammelten Probleme ist. Ich brauche ein neues Ladegerät. „Ah, lass es uns zu Roberto schicken“, sage ich. Eigentlich wären Schwimmflügel – wir wollen ganz bestimmte – für Anton nicht verkehrt. Wir bestellen sie und schicken sie an Roberto. Oft sahen wir uns auch einer bestimmten Problematik gegenüberstehen: Wo gehen wir auf Toilette? Auf der ersten langen Reise mit Anton als Baby kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir damit Probleme hatten. Diesmal schon und die Lösung ist eine kleine mobile Trenntoilette für ein Wohnmobil. Der Empfänger ist Roberto. Gut gelaunt und hoffnungsvoll brechen wir erneut auf und fahren weiter Richtung Süden. Am nächsten Standort können wir zwar direkt am Strand stehen, aber die Straße ist tagsüber so laut, dass wir auf gut Glück in die nächste Ortschaft fahren.

In der Stadt Porto Recanati biegen wir mit einer weinenden Merle in eine Sackgasse ein, wo wir auf einen großen grünen Park mit Wiese, Bäumen, Kieswegen und Spielplatz stoßen. Wir haben direkten Zugang zum Sandstrand, eine lange Promenade zum Spazieren und Fahrradfahren und ein kleines Cafés zum Kaffee trinken. Glück gehabt. Merle beruhigt sich, als sie auf dem Arm genommen wird. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, die Strandliegen sind fast komplett vom Strand verschwunden und nur noch wenige Touristen verirren sich hier her. Wir verbringen entspannte und ruhige Tage an diesem eigentlich langweiligen Ort. Zwischendurch hatte mich gelangweilt. Als ich mein Gefühl der Langeweile äußere, schaut mich Philipp verdutzt an. Wir haben doch genug zu tun. Wenn ich allerdings Tag für Tag die Wünsche eines kleinen Jungen erfülle, meine Bedürfnisse zurückstecke und von Merle Tag und Nacht ausgesaugt werde, brauche ich zumindest etwas fürs Auge.

Und so bricht unser letzter Abend an. Anton und ich schauen im Dunkeln nach den Straßenkatzen. Ich höre ein Babyschreien. Es ist Merle, die gerade von Philipp aus der Trage genommen wird. Sie brauch ein bisschen Muttermilch, körperliche Nähe und Ruhe. Ich bekomme sie überreicht. Ich setze mich auf eine Mauer, lasse sie trinken und schaue über das Meer in die dunkle Nacht. Plötzlich leuchtet der Nachthimmel orange und weiß auf. Ich warte. Noch mal. Ein Wetterleuchten. Leise erhellen Blitze den schwarzen Himmel über dem Meer. Ich überlege, ob ich die Kamera holen soll, aber ich lasse es. Es ist bestimmt gleich vorbei und so besonders ist auch nicht. Merle schläft nicht ein. Ich spaziere mit ihr, singe für sie, schuckel sie, mache tiefe Schritte und beobachte das Wetterleuchten. Nichts hilft. Das Wetterleuchten wird wilder, stärker, schöner. Ich hole die Kamera aus dem Bus, platziere die Kamera mit einer nun laut schreienden Merle auf einem Strandtisch, stelle die richtigen Einstellungen ein, drücke den Auslöser und mache drei Kniebeugen. Endlich sie schläft und Ruhe kehrt ein, nur das Klicken des Auslösers ist zu hören.